Ein Mecklenburgisches Dorfbild aus der Zeit vor dem 1. Weltkriege
Von Walter Burmeister
Nach dreijährigem Besuch der Großherzoglich Mecklenburg-Schwerinschen Präparandenanstalt in Neukloster hatte mein Jahrgang im Herbst 1912 die sogenannte Schulassistentenprüfung bestanden. Wir sollten nun eine Schulstelle erhalten und den ersten Beweis dafür erbringen, dass wir zum Lehrberuf geeignet seien. Frühestens nach einem Jahr würden wir dann die Aufnahmeprüfung zum Eintritt in das Lehrerseminar machen dürfen Uns allen erschien die vor uns liegende Schulassistentenzeit nach dem bisherigen straff geregelten Internatsleben als ein Dasein in goldener Freiheit. Von den älteren Kameraden wussten wir so manches über gute und weniger gute Stellen, dass es kein Wunder nahm, wenn wir täglich erwartungsvoll dem Briefträger entgegeneilten, um zu erfahren, wohin das Großherzogliche Ministerium uns abgeordnet habe.
Endlich kam für mich ein Schreiben mit dem Inhalt, dass ich die zweite Schulstelle in Kieve, Amt Wredenhagen, verwalten solle. Von diesem Ort hatten weder mein Vater noch ich jemals gehört. Auf der Landkarte fanden wir ihn schließlich in der südöstlichsten Ecke des Landes. Wir sahen, dass die nächste Bahnstation 20 km von dem Ort entfernt war und dass auch keine Chaussee ihn berührte. Im Oktober war Röbel noch mit dem Dampfer von Waren aus zu erreichen, so dass ich mir die sehr umständliche Bahnfahrt über Karow und Ganzlin ersparen konnte. Der Schulze des Dorfes war von mir um Abholung gebeten worden. Ich erwartete am Hafen in Röbel einen neuen Stuhlwagen mit flotten Pferden. Stattdessen stand dort ein Planwagen in der Art, wie sie im Jahre 1200 unsere Vorfahren benutzt haben mögen, als sie von Westfalen nach Ostland zogen. Zuerst ging es noch glatt vorwärts auf der nach Wittstock führenden Chaussee, dann aber mussten wir hinein in tiefste morastige Landwege, mit denen natürlich im Spätherbst kein Staat mehr zu machen war.
Nach vier Stunden lud mich der Bauer am Schulhause des Dorfes ab. Die Gattin des ersten Lehrers empfing mich freundlich mit einem guten Abendessen. Der Kollege sagte mir, dass seine Frau mich leider nicht dauernd in Verpflegung nehmen könne. Er hätte aber schon mit dem Gastwirt, der gleichzeitig der Schmiedemeister des Dorfes sei, gesprochen. Wahrscheinlich würde ich dort für einen annehmbaren Preis alle Mahlzeiten einnehmen können. Wir würden nach dem Abendbrot gleich die Angelegenheit in Ordnung bringen. Die Schmiede lag neben dem Schulhause. Wir gingen durch die beiden ersten Gaststuben und kamen in das Honoratiorenzimmer. Dort erwarteten uns alle Prominenten, um den „Lütten Lehrer“ gleich beim Umtrunk kennenzulernen. Da waren also der Schulze des Dorfes, ein noch nicht dreißigjähriger Mann, der eine städtische Schule besucht und sein Amt schon vom Vater und Großvater ererbt hatte; Fritz-Unkel Wehlandt und Fritz-Unkel Lemke als Bauern im Ruhestand; der größte Viehhändler des Dorfes, der Tischler, der Fischer und verschiedene Bauern. Es ging gleich am ersten Abend heiß her. Alle waren viel älter als ich, zum Teil konnten sie mein Großvater sein. Ihre eigenen Kinder gehörten noch lange nicht in diese Stube, ich war ja aber als „Lütter Lehrer“ doch schon Standesperson. Vergessen darf ich nicht, dass mir besonders der alte Fischermeister gefiel, der eigenartigerweise fast in jedem Satz das Wort „anmutig“ als Attribut verwandte, obgleich er doch plattdeutsch sprach. Mir kamen bald Bier, Zigarren und Schnäpse auch „anmutig“ vor, besonders der eine Schnaps, der hier die Hauptrolle spielte. Es war der Kolanußlikör von Krahnstöver aus Rostock, über dessen Bedeutung Fritz-Unkel Wehlandt mich gleich mit dem Vers aufklärte: „Hast Du Verdruss, trinkst Du einen Kolanuß, hast Du einmal viele Verdrüsse, so trinkst Du viele Kolanüsse.“ Glücklicherweise war an diesem Abend so frühzeitig Schluss, dass ich trotz meiner geringen Übungen auf Kommersabenden in Neukloster die erste Prüfung durch die Dorfältesten doch noch mit „genügend“ hinter mich bringen konnte.
Am nächsten Morgen musste der Gehrock angezogen werden, galt es doch, dem Herrn Ortsschulinspektor meinen Besuch zu machen. Ich setzte die Melone auf und trat den Weg zum Herrn Präpositus an. Der fast 80-jährige Pastor empfing mich im Schlafrock und mit der Samtkappe auf dem, Haupte. Er kannte bereits 9 Sprachen, und ich störte ihn gerade beim Studium des Chinesischen. Er ließ gleich eine Flasche Rotwein kommen und bot mir eine Zigarre an. Der alte Herr redete gar väterlich mit mir, und ich bekam das Gefühl, dass ich von ihm nur Gutes erfahren würde. Nur einmal überlief es mich heiß, als er mich fragte, wo ich essen wolle, und ich die Gastwirtschaft nannte. Da sagte er: „Ja, ja, es sind gute Leute, fromme Leute; jeden Sonntag sind sie in der Kirche. Aber es ist ein Krug, und da wird Schnaps getrunken!“ Diesen letzten Satz rief er in Ekstase, und mich überkam alttestamentliche Furcht. Sollte er schon von meinem ersten Auftreten im Gasthaus erfahren haben? Er kannte seine Gemeinde und wusste, dass der Alkohol eine ganz große Rolle im Dorf spielte. Es ging aber alles gut ab. Rotwein ist ja auch kein Schnaps, macht die Menschen nicht aufgeregt, sondern beruhigt sie. Ich habe bei dem alten Herrn noch oft eine Flasche mittrinken dürfen, nur einmal nicht. Davon werde ich noch erzählen. An dieser Stelle will ich aber gleich berichten, dass mir seine Predigten über alle Maße gefallen haben. Nie ließ er sich, wie manche seiner Amtsbrüder verleiten, einen Bibelspruch an den anderen zu reihen oder theologische Vorträge zu halten. Er las in der Kirche ein Evangelium vor und malte in seiner Predigt diese Geschichte dann in allen Einzelheiten aus, so dass die Zuhörer ihm immer aufmerksam folgten und wirklich etwas von Christi Lehre mit nach Hause nahmen.
Am nächsten Morgen begann mein erster Schultag „vor“ der Front. Der Herr Präpositus kam und führte mich ein. Ich erwartete nun, dass er mich in meiner schweren Situation anschießend allein lassen würde. Aber nein, er sagte einfach: „Nun fangen Sie an!“ Glücklicherweise hatte ich damals noch nicht viele Hemmungen durch pädagogisches Wissen um die verschiedenen Möglichkeiten des Unterrichts. So fing ich an. Und der Herr Ortsschulinspektor verließ mich den ganzen Vormittag nicht. Dann drückte er mir seine Zufriedenheit aus, ging nach Hause und kam in dem ganzen Jahre nicht wieder in meine Klasse. Leider wusste ich das an diesem Tage noch nicht. So kam ich ziemlich erschlagen aus meinem ersten Gefecht, war ich doch erst ganze 17 Jahre alt. Aber gerade die Unbekümmertheit der Jugend ließ mich bald glauben, dass ich schon ein Schulmeister wäre. Die Schüler aus dem großen Bauerndorfe waren nicht schwer zu regieren. Mit den „Köpfchen“ der Eingeborenen blieb es zwar nur Durchschnitt aber einige Bauerntöchter hatten sich Männer von der „preußischen“ Nachbarschaft geholt. Das neue Blut ihrer Nachkommen lieferte die Spitzen in den beiden Klassen. Es waren aber auch zwei Dominialhöfe eingeschult. Von dort kamen die Schüler mit Krätze und mit den unerlaubten Schulversäumnissen. Natürlich machte ich ohne Bedenken meine monatlichen Meldungen über solche Versündigungen. Der Landdrost in Röbel schickte dann den Herrn Landreiter, der sofort die Strafgelder einzog. Bei der Gelegenheit besuchte er auch uns, natürlich im „Gemeinschaftshaus“ des Dorfes. Das war die Gastwirtschaft. Er fuhr mit einem flotten Einspänner vor, und bald saßen wir vor einem Kolanuß und einem frischen Glase Bier. „Prosit Herr Landreiter!“ „Prosit, meine Herren! Ja, als ich noch Stabstrompeter bei der Artillerie in Schwerin war, da konnte ich noch trinken. Jetzt hat es mir der Arzt verboten. Ich richte mich auch genau nach seinen Anordnungen. Kein einziges Glas Bier und keinen einzigen Schnaps genieße ich seit langer Zeit Von keinem lasse ich mich bereden. Nein, die Zeiten sind endgültig vorbei. Prosit, meine Herren. Ja früher, das waren noch Zeiten. Vorbei, vorbei! Kein Glas darf ich mehr trinken, und ich trinke auch keins mehr. Wohlsein, meine Herren! Ja, ja, es ist zu traurig, wenn man nicht mehr trinken darf. Aber ich halte mich daran, ich tu’s nicht mehr. Nein, das ist aus. Prosit, prosit!“ Und so ging es stundenlang. Der Wirt brachte Glas um Glas, jedes wurde leer. Aber immer noch dauerte sein Monolog: „Vorbei, vorbei!“
Der erste Lehrer war ein Mann von etwa 35 Jahren. Er war an allgemeiner Bildung seinen meisten Standesgenossen überlegen, fühlte sich mit Recht nicht an seinem richtigen Platz und litt körperlich und seelisch darunter. Auf alle Fälle war er aber der König des Dorfes. In dieser Stellung gab es nur einen Konkurrenten, das war der Pastor, und der war alt. Gelegentlich kam es aber doch zu harten Konflikten. Der Pastor war Vorsitzender des konservativen Ortswahlvereins. Der Lehrer gründete einen liberalen Wahlverein und wurde dessen Vorsitzender. Der Pastor leitete den Gesangverein, der Lehrer gründete einen Kriegerverein. Der Pastor ging nicht zu Krug. der Lehrer jeden Tag. Dort spielte er auch in einem Skatklub mit. Ich blieb natürlich auch jeden Abend dabei und half im Kartenspiel aus, wenn einer fehlte. Dort habe ich erst den Null ouvert spielen gelernt. Der Viehhändler guckte bei mir in die Karten und sagte: „Spielen Sie doch Null ouvert!“ Ich flüsterte: „Das kann ich doch nicht, dann müsste ich doch einen mehr drücken können?“ Er nahm mir die Karten weg drückte drei, warf die Karten auf den Tisch und rief: „Null ouvert! Gar nicht zu kriegen.“ Damit hatte er die Karten schon wieder zusammen und fing an zu mischen. So habe ich gelernt, dass ein solches Spiel mit drei Karten zum Drücken in Kieve sogar schon einen recht guten Null ouvert bedeutet. Oft wurden in vorgerückter Stunde noch mehr gedrückt. Nur dem alten Fritz-Unkel Wehlandt glückte das Experiment nicht mehr immer. Wurde er ertappt, so brummelte er: „Heww mi verseihn, heww mi verseihn.“ Damit war die Angelegenheit dann auch erledigt.
Eines Tages fragte mich der Pastor, ob es einen Skatklub gäbe und ob der erste Lehrer mitspiele. Ich „wusste von nichts“, erzählte aber dummerweise dem Kollegen von dieser Nachfrage. Als geborener Choleriker explodierte er sofort und wollte gleich zum Pastor stürmen und sich diese Erkundigungen verbitten. Ich bat, davon Abstand zu nehmen, weil ich dann mit in den Lärm hineinkäme. Das könnte mir doch von großem Schaden sein, da mir der Ortsschulinspektor ein Zeugnis zur Seminaraufnahmeprüfung ausstellen müsse. Der Kollege versprach zu schweigen. Aber bei irgendeiner anderen Auseinandersetzung zwischen den beiden Päpsten des Dorfes ging die Natur mit dem Lehrer durch. Er brachte die Geschichte vor. Es kam zu einem großen Krach. Beide sprachen nicht mehr miteinander. Der Pastor schickte am Sonnabend die Liedernummern, die am Sonntag gesungen werden sollten, durch Boten. Der Lehrer „beierte“ jedes Mal mit Wut den Sonntag ein, denn hier wurden dazu die Glocken nicht geläutet, sondern mit alter Kunst durch Handbetätigung der Klopfer im Rhythmus zum Tönen gebracht. Ich bekam meine Abreibung und keinen Rotwein. Und das Wunderlichste: Der Pastor zeigte den Lehrer beim Superintendanten an, weil er im Gasthaus Karten gespielt hatte. Etwa bis zum Jahre 1900 hatten diejenigen Lehrer, die zugleich Küster und Organist wurden, einen Revers unterschreiben müssen, der ihnen bestimmte Nebentätigkeiten verbot. Dieser Revers stammte noch aus der Zeit, als manche Lehrer nebenbei ein Gewerbe wie das eines Schneiders oder Schuhmachers betrieben. Da sie aber zu der „Geistlichkeit“ gehörten, sollten sie gewisse Berufe wegen des Ansehens nicht ausüben. So hieß es in dem besagten Revers: „Hausieren, Herbergieren, Aufspielen zum Tanz, Kartenspiel, vornehmlich im Gasthaus, sind dem Lehrer und Küster verboten.“ Einen solchen Schein hatte mein Kollege seinerzeit auch noch unterschreiben müssen. Das wusste der Herr Präpositus, und so kam es zu der Anzeige beim Superintendenten. Der Herr wohnte in Malchin und war schon ungleich moderner. So kam also nichts nach dieser Anzeige. Aber damit war die Freundschaft nicht wieder geflickt. Eines Tages fand nun die Propsteisynode des Zirkels statt. Unser Pastor hatte dazu das Referat über die „Bewährung des neuen Mecklenburgischen Landeskatechismus in den Schulen“ übernommen. Hier half alles Chinesische nicht, und der Pastor kam in große Schwulitäten. Am Abend vor der Synode erschien im Schulhause Frau Marie Diers, die bekannte und gern gelesene Schriftstellerin, die eine Tochter unseres Pastors war und sonst in Berlin lebte. Mein Kollege ließ sich bereden und ging mit ins Pfarrhaus. Bei gutem Rotwein wurde das Referat fertig und die Freundschaft erneut. Als bald darauf der Präpositus an seinem 80-sten Geburtstag zum Kirchenrat ernannt wurde, hatten wieder alle etwas davon.
Ich sagte schon, das Gasthaus sei das „Gemeinschaftshaus“ des Dorfes gewesen. Hier wurden alle Männergeburtstage gefeiert. Dazu ließ man auf Anraten des ersten Lehrers Fässer mit echten Bieren und Originalschnäpse der besten Brennereien des Reiches kommen. Die Frauen standen hier noch im türkischen Recht. Wohnungen mit neuzeitlichen Möbeln gab es erst ganz wenige im Dorfe. Ofenbänke, klobige Tische und Schemel bildeten die Wohnungsausstattung. Spinnräder und Webstühle surrten und klapperten. Fast, jeder trug als Alltagskleidung selbstgewebte Stoffe. Abends waren noch vier Spinnstuben in Betrieb. Der älteste Sohn der Bauern bekam jeweils den Hof, die andern bauten sich eine Häuslerei und arbeiteten in der Forst. Fand ein Familienfest bei den Häuslerverwandten eines Bauern statt, so wurde es im Stammhofe ausgesteuert. Ich erinnere noch besonders die schweren Sitzungen bei Kaffee und Schnaps im Anschluss an Beerdigungen. Auch der „Lütte Lehrer“ gehörte natürlich zur „Geistlichkeit“ und war somit Pflichtgast bei allen Familienfeiern. Schon am 3. Tage meiner Anwesenheit im Dorfe wurde ich zu einer Hochzeit eingeladen. Die Zahl der Gäste betrug 300. Bei Kindtaufen bediente die Hebamme am Tisch. Das Mittagessen begann mit Hühnersuppe. Für jeden Teller gab es ein halbes Huhn als Beilage. Manche, auch der Herr Kirchenrat, nahmen davon schon zwei Teller. Dann gab es Fische und dann Braten. Am Abend vor einer Kindtaufe hatten mich die Stammgäste im Krug beim Würfeln „Nackter Sperling“, „Ins Loch“, „Ums Loch“ usw. so mit Kolanuß und Boonekamp eingeseift, dass am nächsten Morgen das Frühstück nicht stehen wollte. Und nun saß ich beim Mittagessen im Festhause dem Herrn Pastor gegenüber. Ich habe andauernde Angst ausgestanden. Mein Magen hat mich zwar nicht blamiert, aber viel habe ich ihm trotz allen Nötigen an dem Tage auch nicht geboten. Noch heute kann ich bei diesen beiden Schnäpsen „nicht richtig gegenan“.
Das Nachbardorf Buchholz war ein Freibauerndorf. Wenn in den anderen Dörfern Steuern bezahlt werden mussten (der Bauer 10 DM im Jahr, der „Lütte Lehrer“ 3 DM), dann nahmen die Buchholzer noch Geld mit nach Hause. Ihnen gehörte Wald, Jagd und Fischerei selber. Der erste Lehrer und ich durften dort jagen. Ich schoss meine erste Ente auf dem Zuge. Nach Meinung des Kollegen war sie am Herzschlag gestorben. Der Förster des Dorfes hat uns die Jagdmöglichkeit einmal verpetzt. Dann wollte er es wiedergutmachen und nahm uns dafür mit in die staatliche Forst. Sein Lieblingsthema war der „Damm durch den See“. Wenn man nach Buchholz wollte, so musste man um den ganzen See herum. Damit ging mindestens die Zeit von 1 ½ Stunden hin. Durch den See wäre man mit einer halben Stunde ausgekommen. Nun propagierte er jedem gegenüber den Bau eines Dammes durch den See. Alle lachten über dies Projekt, er aber blieb dabei. Der Förster war überhaupt ein Mann mit besonderen Ansichten. Kolik seiner Pferde kurierte er mit Kautabak. Als er einmal in der kalten Jahreszeit
zwischen Weihnachten und Neujahr seine Pferde scheren ließ, sie dann Kolik bekamen und er ihnen nun noch „Priem in den Schlauch“ steckte, da haben es sich die treuen Tiere doch entsagt und sind lieber gestorben. Der Forstmeister redete meistens wenig höflich mit dem Förster. Den Grund kenne ich nicht. Ich weiß aber aus eigener Anschauung, dass unser Förster am Telefon dauernd Verbeugungen machte, wenn sein Vorgesetzter mit ihm sprach. Natürlich gab es auch Wilderer im Dorfe. Ich hatte selber einen Schüler in meiner Klasse, dessen Vater bei einem Zusammentreffen mit Forstbeamten im Walde sein Leben hatte lassen müssen.
Der erste Lehrer war begeisterter Jäger und Angler. Zur Gemarkung des Dorfes gehörten zwei Seen, der „Große See“ und der „Glambeck“. Es waren „anmutige“ Seen, um mit den Worten des alten Fischermeisters zu reden. Er war nun schon auf dem Altenteil. Bei der letzten Verpachtung der Seen durch den Fiskus hatte ein auswärtiger Fischer das Gebot so hochgetrieben, dass der Sohn des alten Fischermeisters nicht mehr hatte weiterbieten mögen. So waren die Seen an den fremden Fischer verpachtet worden. Nun hatte aber die Pfarre an dem großen See seit alters her eine unbeschränkte Fischereigerechtsame. Diese war von dem Pastor immer an den jeweiligen Fischer extra verpachtet worden. Nun hatte der Pastor die alte Fischerfamilie weiter in ihrer Pacht belassen, so dass also auf dem See nun zwei Fischer völlig gleichberechtigt fischen konnten. Das gab viel Streit und Arger. Einmal waren dem einen Fischer die Netze zerstört, und dann brannte die geteerte große Wade des anderen Fischers auf. Wir hatten „Fischereigerechtigkeit“ von beiden Kombattanten. Oft fuhren wir mit einem Bauern zum Angeln. Wer den ersten Fisch fing. musste anschließend im Krug auch die erste Lage geben. Der Bauer war aber bei den ersten Schnäpsen immer geizig. So zog er seinen Haken durch den Wurm, damit er ja nicht den ersten Fisch bekäme. Einmal passierte es ihm, dass er trotz dieser Mogelei der Reingefallene war. Ein ganz kleines Fischchen hatte gerade über seinem Haken gestanden, als er mit Forsche nach einem Biss die Angel hochriss. Nach seiner Meinung musste ja der anbeißende Fisch nun den Wurm abreißen. Das tat er auch., aber der Haken bohrte sich in den unbeteiligten Witing und brachte ihn mit hoch. Das war uns die größte Freude des Tages. Wenn mein Kollege beim Kartenspiel zuerst nicht gleich einige gute Spiele bekam, so verführte ihn seine Natur sofort zum Meutern, und er meinte dann. dass er am ganzen Abend bestimmt keine gute Karte mehr bekäme. So ging es ihm auch beim Angeln. Eines Tages standen wir beide an je einem Ende des Bootes und angelten Barsche. Ich fing so nach und nach einige nette Burschen. Der Kollege fing vorläufig noch nichts. Sein Stimmungsbarometer sank entsprechend. Plötzlich höre ich hinter mir ein Krachen. Schlagen, Spritzen und Fluchen. Mein Angelgenosse zerschlug seine lange Bambusrute in furchtbarer Wut auf dem Bootsrand. Endlich hatte er einen guten Biss gehabt. Beim Anhauen war die äußerste Spitze der Rute abgebrochen. Davon die Explosion. Ich kannte ihn nun schon, sagte gar nichts, sondern ließ ihn abreagieren. Ich angelte weiter und zog einen Barsch nach dem andern aus dem Wasser. Dann fuhren wir an Land, schnitten eine krumme Erle ab, und mein Kollege hatte eine neue Angelrute.
Der erste Lehrer hielt viel vom Soldatentun. Er hat es zwei Jahre später durch die Tat bewiesen und ist bei Tannenberg geblieben. Aus dieser Einstellung heraus hatte er den Kriegerverein des Ortes gegründet Im Winter kam eines Nachmittags der Herr Landrat aus Röbel und überbrachte als Geschenk des Großherzogs dem Verein eine Fahne. Ich durfte als zukünftiger Rekrut auch an dem Festkommers teilnehmen. Als der Vorsitzende am späten Abend den Herrn Landdrosten an den Wagen begleitete, meinte dieser: „Verflucht, ich habe auf den Universitäten auch allerhand vom Saufen gelernt, aber ihr Kivver seid mir doch über!“ Im Sommer sollte nun das große Fest der öffentlichen Fahnenweihe unter Anteilnahme der benachbarten Kriegervereine stattfinden. Die Vorbereitungen zu diesem größten Fest, das jemals im Dorf hatte stattfinden können, nahmen alle Gedanken in Anspruch. Da fehlte z B. für den Vorsitzenden noch ein Offizierssäbel mit Portepee. Die Lage der Kasse ließ den Kauf dieser Waffe nicht zu. Wer konnte helfen? Na, Fritz-Unkel Wehlandt der alte Junggeselle. Wir gingen mit einer Abordnung an seinem Geburtstag zum Gratulieren zu ihm. Fritz-Unkel besaß ein Klavier. Es hatte aber keine Eingeweide, sondern spielte Hausbar. Einige Gläser ohne Fuß und Tassen ohne Henkel dienten dazu, uns die guten Spirituosen, die das Geburtstagskind auf Anraten meines Kollegen von Herrn von Melle aus Lübeck bezogen hatte, einzuverleiben. Die nötige Stimmung ließ nicht auf sich warten.
Schließlich brachten wir die Angelegenheit mit dem Säbel zur Sprache, und, wie gewünscht, Fritz-Unkel erbot sich als Stifter. Soweit waren wir nun. Aber dann die Sorge mit dem Parademarsch In der Nachbarschaft gab es zwar zwei junge Barone, die Reserveoffiziere waren. Einige Vereinsmitglieder schlugen diese Herren für das Abnehmen des Parademarsches aller teilnehmenden Vereine vor. Dem Vorsitzenden als gleichzeitigem Vorsitzenden des liberalen Ortswahlvereins gefiel dieser Vorschlag nicht. Zuletzt kam ihm eine Erleuchtung, und zwar eine wirklich vortreffliche. Er ließ die Veteranen des Krieges 1870/71 auf die Bühne treten und den Parademarsch abnehmen. Fritz-Unkel war auch dabei und stiftete für die Ehre gleich einige Fässer Bier. Es wurde ein Fest, das wahrscheinlich noch heute das Hauptgesprächsthema im Dorfe abgegeben hätte, wenn nicht schon 1914 der Krieg gekommen wäre. Durch ihn und seine Folgen hat das Dorf seine Ursprünglichkeit verloren. Die Errungenschaften des technischen Zeitalters worden übernommen und der Anschluss an den Verkehr hergestellt.
In meiner persönlichen Entwicklung hat die Schulassistentenzeit in Kieve eine nicht wegzudenkende Rolle gespielt. Und wenn mich auch seinerzeit die Röbeler vor den „swarten Kivvern“ gewarnt hatten, so sind sie mir doch alle in „anmutiger“ Erinnerung geblieben.