Die zweite Pfarre, die unser Vater hatte, in der er dann noch über dreißig Jahre im Amt war, hatte ein anderes Gesicht als die erste. Das Dorf lag in sumpfiger Niederung, die Wiesennebel wallten abends Wie ein weißes Meer bis an die Gartenmauer. Das Pfarrhaus war eines der größten Und schönsten, in dem in dieser Beziehung ohnehin gesegneten Mecklenburg, war auch vollkommen trocken, aber im Dorf herrschten viel Krankheiten, und der Krug war selten leer, fraß Existenzen und Lebensglück Die Landwirtschaft, zur Pfarre gehörig, umfasste über 300 Morgen, in dem weiten Hof mit großen Ställen standen acht Pferde und etwa vierzig Kühe, einschließlich Jungvieh Der Garten war parkähnlich Aber der See lag weitab und hatte flache Ufer, er gehörte auch zur Pfarre, war aber später aus Versehen an zwei Fischer verpachtet, die sich mit ihren Rudern auf dem Wasser bekämpften Das Dorf war bei allen Forstleuten wegen der Wilddiebereien verrufen, die verträumte Poesie des ersten Dörfleins hatte hier keine Stätte. Öfter gingen die Gewehre los, der Schulze schnitt sich im Suff die Pulsadern auf. Das war später. Da trat mein Schüler Wilhelm Wolter ins Erbschulzenamt ein, aber duzen musste ich ihn weiter, wie ich den Krugwirt und viele andere duzte.
Wie das so kommt – in diesem viel wilderen, unruhigeren und lange nicht so sittsamen Dorf haben wir uns unmenschlich glücklich gefühlt. In Schwarz war ich in mir verkrochen, verträumt, abseits. Hier war es, als wache ich mehr für die Umwelt auf. Ich war ja nicht viel dort, verheiratete mich, kam nur zu den Ferien mit meinen Kindern, aber wir kannten alle, lebten ihre Dinge mit und sie unsere.
Der Umzug in dem furchtbaren Schneewinter, in dem unser Kaiser dann im März starb, war der tollste, den man sich denken kann. Der ganze Transport wurde geleistet von zwei Möbelwagen und Unzähligen offenen Leiterwagen, die von den Kiever Bauern gestellt waren. Das war grade kein ideales Packen, indessen den Umständen nach besser als im schönsten Möbelwagen, denn als meine Mutter und ich vorausfahrend aufs verschneite Feld kamen, steckte dort der Möbelwagen hilflos im achsentiefen Schnee, halb umgeworfen, von seinen verzweifelten Fuhrleuten umgeben. Wir arbeiteten uns dann selber durch die Schneemassen, um ihm Vorspann zu beschaffen, und kamen spät, halbtot gefroren, mit erschöpften Pferden vor dem leeren, eiskalten und verschlossenen Hause an, da uns noch niemand erwartete. In Decken gewickelt, verbrachten wir die Nacht. Ein paarmal glaubte ich schon, Mama atme nicht mehr und sei erfroren. Am Morgen ging das wilde Heizen los, am meisten in dem Oberstübchen, in das unsere Großmutter einziehen sollte, und das wir dann schon für ganz durchwärmt hielten. Als später ein Thermometer zur Hand war, erfand sich, dass wir es auf ganze 3 Grad über Null gebracht hatten.
Dieser kalte Anfang war kein schlechtes Vorzeichen, wir sind sehr warm in Kieve geworden. Und wenn ich nichts dort gehabt hätte dort als Mutting Werth, die bloß plattdeutsch redete, aber in Punkt Lebensweisheit und innerer Bildung sich nicht vor den Feinsten zu verstecken brauchte, dann hätte ich genug gehabt. Ich habe bisweilen mit ihr im schlafenden Haus bis nach Mitternacht gehockt und sie dann leise hinausgelassen, damit die Türglocke nicht lärmen und morgen das große Gewundere losgehen sollte: »Nun sag mal bloß, was habt ihr euch nur die halbe Nacht durch zu erzählen gehabt?« Ja was? Leben und Lebensgeschichten, wie sie kommen und gehen, wie ihre Spur verweht – oder in Dichtungen, unbewusst aufgefangen, festgehalten wird noch für kommende Geschlechter. Manchen sind sie nichts. Manchen alles. Es kommt nicht darauf an, ob‘s aus engem oder weitem Kreise strömt, ob’s in philosophischen Wendungen spricht oder Plattdeutsch, von Mensch und Vieh. Nur was dahinter steckt, das macht’s.
Meine olle Frau Werth hatte auch ihr Päckchen gehabt im Leben. Eine recht moderne Weisheit, die jeder Frauenrechtlerin gefallen wird, verzapfte sie auch einmal, als sie erzählte, wie sie Nacht für Nacht über die Dorfstraße gegangen sei, ihre im Wochenbett tobsüchtig gewordene Schwester zu pflegen, ach schlimmer, mit ihr zu kämpfen, und als ich mich wunderte, warum die Männer der Familie ihr nicht dabei halfen. »Ach Fräulein, wat sünd Manns? Wat feulen Manns? Gornix sünd Manns! Gornix feulen Manns!«
Ihre Tochter hatte ihr lebendiges Herz geerbt. Ich sehe sie, bang beschwörend, vor meinem wilden Jungen, dem Liebling des Dorfes, stehen. »Ach Günther, ward du doch bloß und bloß ’n ordentlichen Mann!«
Mit sechsundachtzig Jahren legte mein Vater sein Amt nieder und zog nach Neustrelitz. Es war in den Tagen des Umsturzes. Nicht im Kriege, aber im sogenannten Frieden verlor alles Geld und aller Besitz seinen Wert. Man umschreibt diesen Riesenbetrug mit dem sanft verschleiernden Namen: Inflation. Die stillen Opfer dieser Jahre sollen den entmenschten Urhebern dieser sog. Inflation, diesem Auswurf der Menschheit nicht vergessen werden. Wir haben traurige Bilder bewahrt aus dieser Zeit. Aber fest und treu in schlimmer Zeit stand der Menschenschlag in unserer alten Heimat, die Bauern von altem Schrot und Korn, die vor Sorge nicht zur Ruhe kamen, dass ihr alter Seelsorger, wie sie ihn noch auf seinen Grabschleifen nannten, Not litte. Sie packten zusammen, was nur ein Mann schleppen konnte, oft waren es an vierzehn Pfund Butter außer all dem Schachtwerk, und brachten es ihm in die ferne Stadt. Und Vater hat noch darüber gebrummt. Ich musste ihnen sagen, er wolle sich von seiner Gemeinde nicht immer beschenken lassen. »Ach wat,« sagten sie mir. »Uns’ Herr Kirchenrat, de het uns väl mihr schenkt, as wi em je schenken künn. De is Dag un Nacht für uns dor west und het uns den Gesangverein gründet, und so künn kein Anner uns miehr helpen in de letzte Not, as hei uns ümmer hulpen het. Nee, dat latens man sien, dat’s allens in Ornung.«
Als wir ihn mit unsrer Mutter gemeinsam im Frühlingswind begraben, sind seine alten Gemeinden, auch die früheren, in Scharen gekommen und haben bis ins Herz bewegt Abschied von ihm genommen. Und in der Heimat gingen die Glocken zu derselben Stunde, und die Zurückgebliebenen haben gebetet und geweint.
Sonne überm Land. Wenn ihr nach Treue sucht, geht Zu den Bauern nach Mecklenburg.
Dieser Auszug enthält eine Passage aus dem Buch „Meine Lebensstrecke“ von Marie Diers aus dem Jahr um 1895, erschienen im Kranzverlag des Christl. Zeitschriftenvereins Berlin. Marie Diers (1867-1949) war die Tochter des mecklenburgischen Pastors Carl Binde (1833–1923), der von 1888 bis 1918 in Kieve Pastor war.